Ich zog diese lustige Karte in einem Spiel: ‘Einen Roman schreiben, in dem absolut nichts passiert.’ -September 2020. Ich befand mich in einer eher deprimierten Phase des Lebens in der ich mich viel mit Philosophie beschäftigte und der Frage nach dem großen ‚Nichts‘. Insofern, eine super Aufgabe, dachte ich mir. Irgendwann werde ich den Roman fertig schreiben, wenn nicht- auch egal.
Weil alles nichts ist,
passiert also nichts
und auch alles gleichzeitig.
I
Verlorener Kaffee.
Also ging er raus. Verließ die Wohnung, den Hausflur und das Haus an sich auch. Er blickte in den Hintergarten zurück, das heißt, hineinblicken konnte er nicht, weil das Haus ja den Blick versperrte. Man musste durch einen schmalen Gang an der alten Villa vorbeigehen, seinen Bauch zog er jedes Mal automatisch ein, obwohl er locker hindurch passte. Er konnte den gartenartigen Hinterhof also nicht sehen, sondern sich nur denken, dass er da war. Dort war auch das Vogelhaus, was er zu seiner Zufriedenheit heute Vormittag fertig gebaut hatte. Drei Tage hatte er gebraucht, die Größen der einzelnen Fächer zu berechnen und alles zu schneiden und zusammenzubringen. Er genoß den Moment, Dinge wie diese- ein Vogelhaus und auch andere oft müßige oder arbeitsaufwändige Themenbereiche des Lebens- abzuschließen. So wie die Sache mit Paula. Er hatte eine Email geschrieben, hatte alles sauber abgeschlossen und war nun raus aus der Nummer. So empfand er es und ging flötend, gut gelaunt durch die Frühlingssonne.
Auf dem Programm stand heute die Liebermann-Villa. Es schadete schließlich nie, sich Unbekanntes anzuschauen. Den Flyer hatte er irgendwo gefunden, vielleicht beim Bäcker um’s Eck oder an der Tankstelle, er wusste es nicht mehr. Es gab vieles, das er nicht mehr wusste. Aber das war ihm egal. Er nahm sein Fahrrad und fuhr los. Stoppte, obwohl er gerade gut in Fahrt gekommen war beim Supermarkt, kaufte Espresso, schnallte ihn auf den Gepäckträger, fuhr weiter. Er hatte sich die Strecke vorher zu Hause aufgemalt, auf eine Din-A4-Seite Papier. Er befürchtete, dass die Thomas-Mann-Straße, die er kurz entlang fahren würde, garantiert wieder die scheußlichste sein würde, wie es in vielen Städten der Fall war. Oft gab es dort 70er Jahre-Klötze, Center an Häuserecken, kleine Einkaufsmöglichkeiten, Kioske und Wohnungen, die eher aus- anstatt einladend wirkten. Er fuhr weiter, schloss seine Kopfhörer an sein Nokia-Handy an. Mit dem konnte man Spiele spielen, Radio hören und sogar einige Lieder speichern, notfalls auch Fotos machen, die nicht die Qualität einer Spiegelreflexkamera hatten und natürlich, SMS und Telefonie. Da aber kaum noch jemand SMS schrieb und auch grundsätzlich die wenigen Menschen, mit denen er Kontakt hatte grundsätzlich wenig kommunizierten -nur selten telefonisch- war das Radio eigentlich seine Lieblingsfunktion auf dem Gerät. Denn er liebte Radiohören. Fühlte sich dadurch immer auf wunderbare Weise verbunden mit der Welt. Genauso war es mit Life-Fernsehen. Wie oft hatte er versucht, anderen zu erklären, dass es nicht das selbe sei, die Timeshift-Funktion zu nutzen, wenn man zum Beispiel den Tatort oder ein Fußballspiel schauen wollte. Es ging einfach nicht! Aber wenige verstanden das. Und er beneidete jene, die es nicht verstanden, auf eigenartige Art und Weise.
Nun war er bereits um einige Ecken gefahren, hatte zwei Mal umdrehen müssen, weil er eine private Auffahrt mit dem parallel entlang des Kleingartenvereins laufenden Weg verwechselt hatte. Musste auch einmal umdrehen, da er seinen Espresso nicht mehr auf seinem Gepäckträger orten konnte. Das feste Paket lag noch an der Stelle, an der das Fahrrad einen Kantstein herunter gepoltert war. Etwas platt gedrückt, es waren wohl einige Tonnen Karosserie mit einem der vier Räder darüber hinweg gerollt. Später sollte er das feine Pulver dennoch glücklich in der Küche in die Kaffeedose umfüllen. Er fuhr die letzte auf Papier und im Kopf notierte Straße entlang und beobachtete wie die Gegend sich beim Vorbeifahren äußerlich veränderte. Die Häuser wurden plötzlich älter und größer, es gab Bäume und alles wurde einige Dezibel ruhiger. Er entspannte sich, war in Vorfreude und bog in die letzte Straße ab. Man konnte die großen Bäume riechen und fast auch den großen See, der einige hundert Meter entfernt ruhig daliegen musste. Er schloss sein Fahrrad an.
II
Villa der Träume.
Sie stand im Raum und beobachtete, wie ihre Begleitung zeitgleich durch die gegenüberliegende Tür gegangen war. Eine eigenartige Stille, eine zeitlose Ruhe war an diesem Ort zu spüren. Sie schaute ihn an und wusste, dass er mit ihr, Liv, hier war, schon immer hier gewesen war und auch immer hier sein werden würde. Das Haus gehörte in diesem Moment ihnen. Er stellte sich neben sie an das bis zur Decke ragende Fenster und schaute in den Garten. Er küsste sie auf die Wange oder auf die Schulter, sie merkte nicht wohin, denn alles war in diesem Moment eins. Schulter, Wange, Fensterscheibe und das Wasser auf dem flachen See einige Meter entfernt hinter den weißen Stühlen. Genauso schnell wie sich das Glück in ihr und auch in ihm — so schien es ihr — ausgebreitet hatte, die Sicherheit, dass sie immer genau hier waren, das alles immer schon ihnen gehört hatte und immer ihnen gehören würde, schwand dieser weiche warme Zustand langsam und wurde in jedem Raum, den sie zusammen durchwanderten fader. Und sie kauften Postkarten, lächelten anderen Besuchern zu, gingen den Kiesweg entlang und machten Fotos für die Familien zu Hause. Der Tag ging vorbei und die Vision der warmen Sicherheit blieb im Max-Liebermann-Haus, wo sie vielleicht noch andere Paare oder Menschen die glaubten, Paare zu sein, erfassten. Vielleicht war es ein frecher Geist, der sich danach wohl munter ins Fäustchen lachte.
III
Ferdinand verließ das Haus, die Villa. Schön! Dachte er. Sehr schön, durchaus. Und ging den Weg wieder zurück, die zuletzt auf Papier und im Kopf notierte Straße hoch, mit seinem Fahrrad an der Hand, denn er mochte das Kopfsteinpflaster nicht. Es brachte ihn dazu, immer wieder den Espresso auf dem Gepäckträger zu kontrollieren. Er war noch da. Duftete nun leicht durch die kleinen, auf dem Hinweg entstandenen Risse und er freute sich auf den Nachmittagskaffee zu Hause. Gemütlich würde es sein. Und alles war unter Dach und Fach, lief schnurgerade so, wie er es sich vorstellte. Ein Jobangebot war gestern ins Haus geflattert und er hatte zu tun. Und das war gut. Sehr gut sogar. Da fiel ihm ein, dass er mit einer Wollmütze hergefahren war, die er doch in die linke Seitentasche seiner Jacke gestopft hatte. Wo war sie? Nicht da! Er wusste genau, wo es passiert sein musste. Fasste sich an die Stirn. Fuhr in Gedanken den Weg zurück und machte die zwei Punkte aus, an denen er in die Tasche gegriffen hatte. Einmal an der Ecke beim Park, als er die Sender am Handy-Radio gewechselt hatte. Und wohl noch einmal etwas früher, aber er kam nicht mehr auf die exakte Stelle und wusste auch nicht mehr den Grund, warum er wieder in der Tasche hatte wühlen müssen. Er fuhr los. Das Kopfsteinpflaster war endlich nicht mehr Kopfsteinpflaster sondern großflächiger Asphalt, der an einigen Stellen eingerissen war. Er dachte darüber nach, ob es wohl helleren Beton gab, jetzt wo die Städte sich in sich wiederholenden Hitzesommern aufheizten. Ob es ein helle Farbe gab, die man auf dunklen Flächen verteilen könnte? Oder Rasen, oder Kiesel. Und endlich, die gelbe Mütze leuchtete schon von weitem. Er sah sie mitten auf der Straße liegen. An der Stelle, wo er den Kaffee verloren und wieder aufgehoben hatte. Er freute sich ehrlich – so, als hätte er gerade etwas richtig gemacht, schüttelte die Mütze, dachte an das Wollprogramm, dass er später anschmeissen musste, und strampelte den Weg nach Hause, den er nun nicht mehr ganz so konzentriert fahren musste, da er die Strecke ja nun bereits gut kannte. Er hatte sich alles genau eingeprägt. Die Papageien im Gartenverein, Kanarienvögel und andere nicht in Deutschland gewöhnliche Arten. Die große Allee, dann immer größer werden Wohnhäuser, Häuserblocks und die Shopping-Mall bei der Thomas-Mann-Straße. Das Gartentor zu seinem Haus quietschte. Es war natürlich nicht sein Haus, er wohnte nur zur Zwischenmiete seit einigen Jahren im Erdgeschoss mit Blick in den Garten. Es war nur eine Zwischenlösung geworden, aber nun war er nach fünf Jahren noch immer da. War es nicht im Endeffekt egal, ob eine Lösung auf die Dauer aus war oder nur auf einen unbegrenzten Moment? War es nicht im Endeffekt dasselbe, nämlich eben eine Lösung, oder vielmehr, alles eine Zwischenlösung?
IV
Ebenfalls nicht um Dauer ging es in der Beziehung, die Frank zu Liv hatte. Es ging wohl um den Zustand, die Möglichkeit, den kurzen Traum mit Liv zusammen zu sein. Aber es ging nicht. Er musste es ausprobieren, fühlte sich hingezogen zu den Männern, die er auf der App sah. Musste es wagen und vielleicht alles verlieren. Aber was war schon alles und was bedeutete es schon, etwas zu verlieren? Also tat er es und ging in die Vollen, ließ Liv stehen und lebte sein Leben weiter, an einem anderen Ort und natürlich ohne sie. Der Besuch in der Max-Liebermann-Villa war dennoch immer eine schöne Erinnerung, wenn er sie auch nicht allzu oft aufrief, denn es fühlte sich an wie ein Leben, das er hinter sich gelassen hatte und er wusste nicht, ob er es vermisste oder froh war, es nicht mehr zu leben. Er hoffte, dass er es irgendwann wissen würde, aber das würde noch viele Jahre dauern, Jahrzehnte vielleicht- aber Gott sei Dank, ahnte er dies nicht.
V
Lars Ferdinand fiel hin. Er fiel so bitterst hart auf die Stufen vor seinem Eingang, dass sein Knie brannte unter der Hose. Er wurde rot, es fühlte sich jedenfalls so an. Er hasste derartige Missgeschicke. Fühlte sich blamiert und bloßgestellt, auch wenn ihn niemand gesehen hatte. Gleichzeitig genoss er den Schmerz, weil er mit dem Gefühl aufgewachsen war, immer etwas falsch zu machen, ein Hans-guck-in-die-Luft, der weder je richtig “da”, noch “hier” war. Und der Schmerz änderte das. Durch den Schmerz war er “hier”. Als hätte man ihn einmal am Kragen gepackt, hochgehoben und auf den Boden geworfen. Er spürte seinen Körper. Er war wach, er war da, fühlte sich fast schon bestraft für seine doch sehr schwächliche und zarte Art, die sein Vater ihm oft polternd vorwarf. Und es fühlte sich gut an, nach dem kurzen Moment der Blamage. Er fühlte sich männlich und stark, den Schmerz dann doch überraschend gut ertragend. Vielleicht sollte er mit Kick-Boxing beginnen, dachte er für eine Sekunde. Aber es war wirklich nur eine Sekunde, dann dachte er an etwas anderes. Oder an nichts. Man wusste es nie so genau. Die Vögel zwitscherten und er füllte neues Wasser in die Traufe, die am Treppenabsatz zum kühlen Keller lag. Noch nie hatte er in diesen Teil des Hauses geblickt, ganz einfach weil er keinen Schlüssel hatte. Und es interessierte ihn auch nicht besonders, aber gleichzeitig ging etwas Geheimnisvolles von diesem Bereich des Kellers aus. Als würde es kalt unter der Tür hervor dampfen. Es roch immer etwas feucht und nach alter Kälte. Er würde wohl nie herausfinden, was hinter der Tür war und im Grunde seines Herzens war es ihm auch egal, weil im im Grunde seines Herzens eigentlich alles egal war. Nichts erschien ihm wichtig, außer wenn die Sonne auf sein Gesicht schien, oder er eine leckere Mahlzeit in der Hand hatte oder eine schöne Frau im Bett. Aber das geschah immer seltener, weil die Geschichten einfach immer endeten und das Ende war immer etwas unangenehm. Und unangenehmes umging man besser, also wurden diese Geschichten seltener. Er würde heute Abend eine Schweizer Käsesuppe kochen, beschloss er und überlegte, ob er noch alles im Haus hatte. Den Bergkäse müsste er wohl noch rasch kaufen gehen, aber das war nicht weiter schlimm, denn er mochte den Einkaufsmarkt in der Nähe seines Hauses.
Einwurf 1
Nun habe ich ein Buch begonnen, das sich gleichzeitig um alles und um nichts dreht. Völlig gewöhnliche Menschen, völlig nebensächliche Details und dabei ist es doch alles, was ich hier beschreibe, auch wenn es eventuell kaum jemand nachvollziehen kann. Aber darum schreibe ich es auch nicht, sondern einfach nur aus Neugier, zu schauen, was für mich noch “nichts” bedeutet. Entweder, dass nie etwas war oder nicht mehr existiert. Und das ist sehr viel und es macht mich traurig. Das Schreiben geschieht ganz automatisch und wahrscheinlich in der Hoffnung, dass mich das, was ich schreibe, endgültig verlässt, dass die Erinnerung verblasst. Und, wie Roland Barthes schrieb, um mit dem Schreiben die Liebe von dem zu erlangen, den ich liebe. Respektiert und gemocht zu werden? Ob man mich versteht ist jedoch relativ nebensächlich, auch wenn es sicher schön für alle Beteiligten wäre. Aber es ist mir egal.
VI
Gedanken in Zügen.
Egal war auch Liv alles und gleichzeitig nichts, als sie im Zug saß. Mit einer Atemschutzmaske, die man seit einigen Wochen nun trug, als hätte es nie etwas anderes gegeben. Sie fühlte sich zugegeben extrem wohl mit der Maske. Auch wenn sie lernen musste zu endschleunigen, da das schnelle und warme Atmen unter der Maske alles andere als angenehm war. Aber entschleunigen, das wollte sie sowieso lernen. Die Hektik war idiotisch, das war ihr sehr klar. Hektik war weder elegant noch energiesparend und das waren zwei Dinge, die sie immer als sehr wichtig empfand. Sie schaute aus dem Fenster. Dachte an ihren Bruder, den Förster in Schleswig-Holstein und an die große Schwester, die gerade für ein Medizinstudium nach Prag gezogen war. Niemand begann mehr mit 31 Medizin zu studieren. Aber Johanna tat es einfach. Genau wie der Rechtsanwalt von dem sie gehört hatte, der plötzlich alles hinschmiss, um Klavierbauer zu werden. Aber das war ein Mann und dadurch etwas anderes, nicht nur weil er wahrscheinlich bereits gut verdient und einiges an Geld zur Seite gelegt hatte. Als Frau musste man sein Leben mit 27 ungefähr unter Kontrolle haben. Spätestens mit 30, sonst gehörte man zu denen, die etwas irritiert und mitleidig angeschaut wurden und spätestens ab November seltener angerufen wurden. Zum einen, weil alle in der immer früher beginnenden Vorweihnachtszeit mit ihren Familien, mit ihrem Geschenkestress und mit letzten ganz dringenden Aufträgen im Büro beschäftigt waren. Zum anderen, weil sie dann Liv nicht fragen mussten, was sie Silvester machte und gar nicht in die Bredouille kamen, sie fragen zu müssen, ob sie mit ihnen feiern wolle. Sie feierten ja eigentlich gar nicht wirklich, nur ein ganz entspanntes Raclette-Essen mit Johann und Ulli- nichts Großartiges! Peter und Yolanda würden vielleicht auch noch kommen, denn die wollten dieses Jahr auch nichts Großes veranstalten. Um diese Situationen, jedes Jahr wieder, nicht erleben zu müssen, hätte Liv also ungefähr mit 27 einen Plan haben müssen, einen festen Job und eine Idee, wer sie war. Hatte sie aber nicht. Oder wenn es eine Idee war, dann war sie jedenfalls nicht richtig, denn sie war nun eine andere, nämlich frei von jeglicher Idee und Vorstellung, wie Dinge zu sein haben sollten.
Der Zug hielt in Wittenberge. Sie notierte, wie sie das wohl schon auf bestimmt drei Fahrten getan hatte, jedesmal wenn sie dieses beeindruckende Gebäude mit der großen Uhr am Turm sah, wie ein alter schwerer Nazibau schimmerte er immer wieder in blassem Gelb durch die schlichte Landschaft. Sie notierte den Namen der Stadt, dass sie unbedingt hin müsste, das Gelände anschauen müsste, vielleicht einen Artikel oder etwas anderes darüber verfassen wollte. Jedenfalls endlich herausfinden, was dieses Gebäude für eine Geschichte hatte. Und dieses Gebäude mit der Welt teilen, denn sie war garantiert eine der wenigen Fahrgäste, die auf dieser Fahrt nicht auf ihre Netflix-Serie starrte, die nicht Bubble-Games spielte oder einschlief. Denn einschlafen konnte sie nur im Liegen und Netflix war ihr schon abends zu Hause Zeitraub genug. Sie schaute raus und wollte alles festhalten, umformen, konservieren, damit nichts davon je verging. Die Felder mit den vereinzelnden Rehen, die tiefen Wälder, die an der Scheibe vorbeiflogen. Lediglich die alten Dörfer, in denen nur noch vereinzelt Menschen herumirrten, im Zweifelsfall zum groß schillernden LIDL, die es nun überall gab, nur diese Dörfer, hätte sie gerne verdrängt, da sie sich sofort von der politischen Gesamtsituation erschlagen fühlte. Diese Ausweglosigkeit der Landflucht, die Schattenseiten des Kapitalismus, die großen Unternehmen und längst vollzogene Aussterben von kleinen Bäckereien und Tante-Emma-Läden. Wie das Ganze mit dem neuen Rechtsruck zu tun hatte – dieser jedenfalls in Teilen hier seinen Ursprung fand- faszinierte sie. Wie komplex die Welt war, verwirrte sie und sie entschied sich, die Gedanken auf anderes oder besser, auf nichts, zu richten.
Berlin Alexanderplatz. Berlin Hermannstraße, Gleisdreieck, Gesundbrunnen, Bornholmerstraße, Maxstraße, Thomas-Mann-Straße. An jedem Ort eine Erinnerung und sie war froh, jetzt hier zu sein und an keinen der Orte zu müssen. Die Zukunft formte sich neu und nichts erinnerte sie an das war bisher passiert war. So lief sie auf dem noch dunkel schimmernden Beton zum nächsten ausleihbaren Fahrrad und bahnte sich ihren Weg durch die Stadt, die keine war, sondern viele auf einmal, in einander geschlungen ohne zentralen Punkt, was sie an kleineren Städten immer mehr schätze. Sie fuhr zu Frank und freute sich darauf, denn alles war inzwischen verjährt, die Idee der großen Liebe und was übrig blieb war eine eigenartige Verbundenheit, von der wohl keiner so recht wusste, wohin die mal führen sollte. Im Treppenhaus war ein Schild an der Wand, aber sie schaute es nicht an sondern ging in den zweiten Stock hinauf und klingelte.
VII
Aquarell und Shoppingcenter.
Es waren einige Jahre vergangen. Die Thomas-Mann-Straße war noch immer so hässlich wie damals und das Max-Liebermann-Haus brachte einige Paare zum träumen. Direkt hinter dem Shoppingcenter, in einem der neueren Wohnhäuser, unweit dem ehemaligen Wohnhaus, dem damals nur temporären Wohnort, in diesem neuen Rotklinker, ganz einfach aber gar nicht so hässlich, lebte Lars Ferdinand Schultz heute. Lars Ferdinand langweilte sein eigener Name, vor allem der erste, Lars, denn er klang so, als würde man dabei gähnen oder jedenfalls müde werden, allein beim Aussprechen seines Namens. Grundsätzlich war das Leben von Ferdinand nicht allzu spannend. Er hatte seine Frau Petra kennengelernt, es war schon einige Jahre her und Petra war ganz hübsch anzusehen, eher schlicht im Charakter und freute sich über die kleinen Dinge im Leben. Aber es passierten auch keine großen Dinge im Leben, sie ging täglich zu ihrem Job in der Bankfiliale, danach zu ihrem Schwimmkurs, den sie mit Leidenschaft seitdem sie zwölf war besuchte, im Norden der Stadt und seit neustem zeichnete sie auch kleine Aquarelle von der nordischen Landschaft um sie herum. Natürlich musste man dafür einige Meter mit dem alten Punto fahren, aber das störte sie nicht. Sie war sogar froh, rauszukommen aus der Wohnung, weg von Ferdinand, der tagein tagaus gleich war. Er war zwar angenehm gleich, weder unangenehm noch aufgeregt, noch gemein oder nervig. Aber er war eben immer gleich, was sie aber nicht störte, solange sie ab und zu in Ruhe raus in die Natur konnte, um Fotos von Landschaften, Sonnenuntergängen oder Bäumen zu machen, die sie dann zu Hause ebenfalls in vollster Ruhe abmalte, direkt auf ihren Aquarellblock. Ferdinand war erfolgreich in seinem Beruf, verließ täglich gerne das Haus und kam glücklich zurück nach getaner Arbeit, denn getane Arbeit tat gut. Er dachte selten zurück, oder daran, wie Dinge hätten sein könnten. Denn Dinge waren nun mal so wie sie waren und zurückblicken brachte niemanden weiter. Ihn am allerwenigsten. Und so trat er seine Schuhe wie jedes Mal, wenn er zur Tür hineinkam, einmal im Erdgeschoss brav ab und dann noch einmal oben im vierten Stock vor der Tür. Stellte seine Schuhe ordentlich nebeneinander und ging in die Wohnung zu Petra. Und an dieser Stelle wird einem beim Erzählen arg langweilig. Und in Ferdinands Kopf wollen wir nicht reinschauen, ob wohl dort viel Spannendes passiert, wenn er zum Beispiel seine Bücher aufschlägt oder ein wenig Musik hört. Aber all das bleibt in Ferdinands Kopf und nur da, denn er vergaß zu lernen darüber zu sprechen, was im Kopf so los ist. Das war genau wie mit dem Namen. Er schien gelangweilt vom Namen, vom Leben das dieser Name lebte. Aber daran etwas ändern, nein, wozu, denn es ging ja gut, so wie es war. Es duftete nach Speck und Ei, und er freute sich, dass es Quiche gab und ging einige Schritte in die gemütliche Küche, in der Petra bereits den Tisch deckte.
VIII
Liv war nach dem Berlin-Aufenthalt wieder zu Hause in Bremen angekommen, in ihrer kleinen Wohnung im Erdgeschoss eines einstöckigen Hauses, das eng neben dem nächsten Haus stehend recht freundlich aussah. Einige Rosen wuchsen neben der Tür an der Wand in die Höhe. Sie wuchsen dieses Jahr bereits das zweite Mal. Grundsätzlich fiel ihr dieses Jahr auf, wie verzögert manches blühte, wie viel später die Brombeeren sich ernten ließen, als im Vorjahr. Der Sommer war wieder heiß gewesen, aber vielleicht war es die Kälte im Juni, die dazu führte, dass nicht wie im Vorjahr im August ein Brombeerkuchen gebacken werden konnte. Genau wusste sie es nicht, aber feststand, dass der Kalender der Natur ein sehr anderes Timing hatte, als der Kalender in ihrem Lederordner, den sie treu mit sich herumtrug, um einen Überblick über die Zeit und ihr Leben zu behalten.
Das Wochenende in Berlin, der Abend bei Frank war schnell herumgegangen. Sie hatten nach einem langen Spaziergang guten Wein getrunken, sich vielleicht ein Mal zu lange in die Augen geschaut und dann rasch das Gespräch auf Politik oder Gesellschaft gerichtet und intensiviert. Seine Schwester war vorbeigekommen, was die Situation angenehm entspannte, da sich die Zweisamkeit wie immer zu gut anfühlte. Dinge waren wieder wie früher zwischen ihnen, die alte Freundschaft hatte den kurzen Irrweg überlebt. Sein aktueller Partner war erfreulicher Weise für einige Zeit im Ausland, was die Situation entschärfte, da er – genau wie die vorige langjährige Partnerin- nicht gut mit dieser tiefen Freundschaft klarkam.
Liv legte sich auf die petrol-farbene Yogamatte. Sie versuchte an nichts zu denken, leer zu sein – im besten Falle voller guter Energie und Hoffnung. Es gelang ihr. Fast. Da war neben dem großen Nichts und etwas positiver Energie und Hoffnung aber auch eine Menge Scham, eine Menge gefühltes Stirnrunzeln, nach langem Wundern und Ärgern. Sie hatte sich getäuscht, in einem Menschen ganz und gar geirrt, was ihr vorher so noch nie passiert war. Sie schaute in die linke Zimmerecke auf den Vorhang am Fenster. Träume kurz weg, schwelgte in Erinnerung, wie sie es oft und gerne tat. Es war nur so, dass diese Erinnerungen wehtaten, sie gaben ihr kleine Stiche ins Herz, von denen sie wusste, dass sie auf Dauer nicht gesund waren. Dass sie Groll nährten und Angst schürten. Der Brunnen der Erinnerung an Fabian war langsam leer geschöpft und doch war da immer wieder ein Tropfen zu finden, und sie lehnte sich über das Geländer, um an den Tropfen heranzukommen und spürte, dass die Zehen kitzelten, dass sie fast kopfüber in den dunklen Brunnen fiele, wenn sie sich jetzt nicht schleunigst zusammenriss. Sie richtete sich auf, atmete und atmete noch mehr. Sie dachte an die sympathische Qi-Gong Lehrerin, die ihr so viel Kraft gegeben hatte, die eine derartige Ruhe und Sanftheit ausstrahlte, die sie bewunderte. Sanftheit war sicher das letzte, was man mit ihr, Liv, assoziieren würde und ein wenig wollte sie an sich arbeiten, um auch sanfter zu sein oder wenigstens sanfter zu erscheinen. Sie strecke beide Hände in die Luft, schöpfte das Qi, zog etwas wie einen Luftball zu sich heran und schob das ganze am Herz vorbei wieder vor sich in die Luft. Sie zog die Arme wieder heran und drückte, was auch immer da in der Luft vor ihr war, nach unten. Sie schüttelte den Kopf darüber, immer und immer wieder, dass man sich so irren konnte. Dass man dachte, man hätte alles gefunden, alles was man brauchte und wollte, Schönheit, ein Ohr das einen hört, ein Auge, dass dasselbe sieht – aber die Schulter zum Anlehnen, die war eben nicht da, und eigentlich nicht mal das Ohr, das einen hört. Jedenfalls war es taub und zugestopft und sie konnte ihn nicht befreien, ihm nicht helfen. Er war sich selbst im Weg, über 30 Jahre hatte er gelernt, sich zu verbarrikadieren, hatte nicht gelernt zu sprechen und war versunken in seiner Welt. Liv war zur Therapie gegangen, zu noch einer Therapie gegangen, zur Bibliothek, um über Karl Jaspers, Freud, Goethe, Husserl und wie sie alle hießen zu lesen und irgendwie die Welt ein Stück besser zu verstehen. Ihn zu verstehen, sich zu verstehen. Und das hatte auch funktioniert. Aus allem war nichts geworden und dann aus dem nichts immer hin einige “Aha!”-Erlebnisse. Ein interessantes wenn auch absolut amateurhaftes Studium der Psychologie und Philosophie in Eigenregie mit schmerzhaften mannigfaltigen Lernbeispielen am eigenen Hirn und Herz. Sie hatte in den Monaten viel gelernt, unter anderem, dass das Leben überschätzt werde, sie erfand das Wort “Lebensfetischismus”, das nur von völlig gesunden und völlig sorgen-freien Menschen so aufgeblasen werden könne. Sie konnte Menschen, die sich für den Freitod entschieden, nun ganz gut verstehen oder hatte wenigstens einen inzwischen doch recht großen Respekt vor Menschen, die eine Depression besiegt hatten, denn das war es, ein echter Sieg. Sie fand, dass jeder Bürger einige Stunden beim Psychotherapeuten verbringen sollte, egal ob betrübt oder nicht! Es war einfach eine geniale Erfahrung, nur über sich zu sprechen und vom Staat bezahlte 45 Minuten der einzige und wichtigste Mensch im Raum zu sein. Sie fragte sich, ob er, der ihr kaum bekannte Johann, irgendetwas gelernt hatte, in dem letzten Jahr- seit diesem absurd-raschen Ende der sich gerade erst bildenden Beziehung. Wahrscheinlich nicht. Und sie musste akzeptieren, dass er noch immer nicht wusste, was er angerichtet hatte. Dass er alles verdrängt und vergessen hatte. Dass er nicht ahnte, nicht kapieren konnte, dass Ghosting schlimmer war als viele ins Gesicht geschriene oder gesagte, schmerzhafte Worte. Zerstörerischer als die schlimmste Enttäuschung und der härteste Schlag ins Gesicht, den man sich vorstellen konnte. Denn dieser nicht real existierende, sondern wie von Geisterhand ausgeübte, nicht greifbare, unsichtbare Schläge hinterließ einen ganz anderen Schmerz und der dauerte Tage, Nächte und endlose Stunden, nahm einen komplett ein, schlug von innen auf das Herz, trommelte pausenlos von außen auf die Ohren, auf den Kopf und immer wieder ins Gehirn wie ein Hammer, der nicht müde wird zu fragen. Ein endloses “Warum?”. – Es klingelte an der Tür. Liv hatte den Kopf gerade vor sich auf die Matte gelegt, zusammengekugelt wie ein großer Kieselstein lag sie da. Diese Pose erinnerte sie oft an ihren ersten Liebhaber, Jerome, aus Frankreich, der eines Abends sagte, sein Therapeut hätte ihm diese Pose empfohlen, um sich zu beruhigen. Dann schluckte er irgendeine Tabeltte. Heute verstand sie ihn besser. Jahre später sollte er seine damalige Freundin mitten an einer französischen Landstraße stehenlassen und mit dem Motorrad ohne einen Stopp direkt nach Strasbourg zurückfahren. Und das war tatsächlich passiert, so sehr es auch klang wie aus einem Film. An ihn dachte sie häufig, so wie sie an all die wenigen Männer, die sie wirklich mochte, an jene drei, häufig dachte und nie ganz vergessen wollte. Es klingelte erneut. Zwei Mal kurz nacheinander. An der Tür angekommen, nahm sie den Hörer von der Wand und öffnete die schwere Holztür. Schritte auf dem Flur klangen wie die Postboten heute oft klangen, sehr gehetzt und froh, dass es nur der zweite Stock war, wo er einen Haufen Pakete abgeben konnte. Sie unterzeichnete und stellte sich vor, wie die Nachbarn bequem auf dem Sofa sitzend Bücher, Küchenutensilien und natürlich Klamotten oder Schuhe bestellt hatten. Den ökologischen Fußabdruck und die Arbeitsbedingungen des Lieferanten natürlich ausnahmsweise ignorierend. Bei Ryanair hatten sie ja neulich auch den 5€ Öko-Zuschlag gebucht. Sie fühlten sich also einigermaßen nachhaltig, weil sie ihre Avocados in Wachspapier einwickelten, das sie teuer beim Designshop in der Innenstadt erstanden hatten. Liv öffnete einen ihrer neun Tabs im Internetbrowser und schaltete Musik an. Emilie Mayer, von der sie gestern im Radio gehört hatte. Eine weibliche Komponistin, der “weibliche” Beethoven, was so oder so verstanden werden konnte. Es war natürlich Quatsch, weil ihre Musik vollkommen anders war als seine, jedoch eine ähnlich tiefe emotionale Wucht hatte, die Liv im Innersten sehr anfasste. Man konnte sich nun über diese Art der Bezeichnung aufregen, aber so etwas war Liv zu anstrengend. Überhaupt war ihr vieles, was mit Debatten, Diskussionen und Gesprächen zu tun hatte, zu anstrengend. Zu laut, zu mühsam und sinnlos. Sie schwieg lieber und wartete nur auf den Mann, mit dem sich das Schweigen nach mehr als nur nach Stille anfühlte. Wo Ruhe voll war von Einverständnis, Genuss und non-verbalem Austausch über die Schönheit eines Moments. Oder, wenn Ruhe einfach voll von Ruhe war. Denn ein einziges Wort konnte diese Perfektion rasch und brutal zerstören.
IX
2850 Golfbälle.
Eigentlich mied Ferdinand Einkaufszentren. Es war ihm zu laut, zu grell, zu hektisch und die Musik nervte ihn. Aber er hatte keine andere Wahl, denn er musste schnellstmöglich ein Paket Zucker kaufen, um den Kuchen für Petra fertig backen zu können und da sie in gut zwei Stunden zu Hause sein würde, musste er den Zucker schnellstmöglich besorgt haben. Er lief am Douglas vorbei, am Bäcker und am Sportgeschäft. Aus dem Augenwinkel sah er etwas, was er erst danach richtig anschaute. Golfbälle. Eine Erinnerung wurde wach. Ein Moment, an den er seit langer Zeit nicht gedacht hatte. Vielleicht eigentlich kein einziges Mal seitdem es passiert war. Es war schon Jahre her und eigentlich auch eine Nebensache, überhaupt nicht wichtig und schnell verdrängt. Er wusste nicht, dass er für ihn Unwichtiges oder Unangenehmes schnell verdrängte. Aber manchmal fielen ihm Dinge wieder ein und er wunderte sich kurz einen Moment, bevor er sich wieder mit dem Alltag beschäftigte oder mit der Musik. Es war im Januar 1993 gewesen. Er war gerade ein Mal 13 oder 14 gewesen und lief mit seiner Mutter und seinem großen Bruder durch das Einkaufszentrum in Schaltal, wo sie eine Zeitlang gelebt hatten. Dort waren Schilder montiert und Girlanden gehangen und überhaupt wirkte alles an diesem Tag ein wenig festlich, was Ferdinand ganz gut gefiel. Außerdem hatte er zur Feier des Tages ein Eis in der Hand und das war grundsätzlich schon mal eine gute Sache. Sie liefen also mit Dudelmusik im Hintergrund über den wie Mamor wirkenden glatten Boden des Einkaufszentrums, als Ferdinand einen riesigen Kubus aus Glas sah, in dem eine immense Menge Golfbälle zu sehen war. Nun wusste er auch wieder den Anlass der Feier: Das Jubiläum vom Golfplatz der Nähe der Stadt. Ein Mann mit Mikrofon tauchte auf. Er trug ein Golf-Outfit, was einige Betrachter im Publikum zum Lächeln brachte. Ferdinands Mutter zwinkerte ihrem Nachbar Bernd zu und dieser zwinkerte zurück. Das Zwinkern merkte sich Ferdinand- das würde er auch mal üben, beschloss er in dem Moment. Jedenfalls nahm der Herr das Mikro in die Hand und sprach mit einer spannungslosen Stimme, die etwas von Las Vegas oder Bingo-Abenden hatte “…wer ist der Gewinner.. wer kann gut schätzen, wer liegt heute richtig und gewinnt das Golfwochenende für Zwei? Liegt überhaupt jemand richtig? Ja, meine Damen und Herren, wie viele Bälle befinden sich in diesem Kubus… “ “-2850 !” schrie Ferdinand. Er erschrak sich selber, denn er hatte gar nicht schreien wollen. Er hatte die Zahl nur rasch gedacht, kaum gerechnet, eher geschätzt oder mal eben überschlagen, er wusste es nicht. Er wurde sofort rot. Versuchte sich neben seine Mutter zu zwängen und hinter seinen Bruder aber es war zu spät, er war entdeckt worden und der Moderator starrte ihn an. “Ja, junger Mann, ich glaube du bist zu spät, dennnnnn…. Herr Braskuli hat sich an die Teilnahmebedingungen gehalten und diiiiese Karte hier abgegeben” – er hielt einen Zettel hoch und zeigte auf einen Mann mit Bierbauch, der links von dem kleinen, mit Green bezogenem Podest stand. “Herr Braskulsi- kommen Sie nach vorne, holen Sie ihren Gewinn ab und, ja bitte liebe Vorbeigehende, liebe Verlierer und Zuschauer- ein großer Applaus für diesen genialen jungen Herrn, der fast richtig lag mit 2687 Bällen! Das grenzt ja an Genialität, ganz ohne Schummeln, ich kann es garantieren!” Nachdem er das gesagt hatte und dem Herrn, der nicht ganz jung war, die Hand geschüttelt hatte, schaute er in das sich langsam und teilweise enttäuscht auflösende Publikum. Er sah Ferdinand und schaute ihn kurz und wie Ferdinand empfand, böse an. Als hätte Ferdinand etwas falsch gemacht. Aber den Blick kannte er, weil er oft Dinge falsch machte. Darum beschloss er, das nächste Mal die Regeln zu beachten und nichts zu sagen. Er würde versuchen, wie die anderen zu sein und eine Karte ausfüllen, falls er so ein Gewinnspiel noch einmal sah. Die starke Ungerechtigkeit, die er empfand, schluckte er schnell mit dem letzten Bissen Eis hinunter und seine Mutter zog ihn auch schon am Arm weiter in Richtung Supermarkt. Sein Bruder hatte von all dem kaum etwas mitbekommen, da er grundsätzlich nicht viel mitbekam. Er hatte die ganze Zeit in das Schaufenster vom Spielzeugladen gestarrt, in dem ein Monstertruck oder ein Jeep in eine Berglandschaft montiert war, was er um einiges interessanter fand, als die Anzahl von Golfbällen in einem transparenten Kubus. Ihm war grundsätzlich alles egal, was nicht laut krachte, brummte oder einen Motor hatte und sich prügeln konnte.
Einwurf 2
Die Aufgabe ist eine ganz schön große Herausforderung, die sich als lustiger Karten-zieh-Spaß tarnte, aber nun ein zweiköpfiges Monsterlein entpuppt. Der eine Gesichtspunkt: über NICHTS zu schreiben. Der andere: ein Buch zu schreiben! Was ist das, ein Buch? Was ist mein Minimalaufwand, denn ich bin faul und halte nie lange durch. Wie lang es ist, scheint egal zu sein, aber es braucht einen Anfang und ein Ende. Und es muss zwischen dem Anfang und dem Ende etwas stehen und ich will am Ende sagen, “ja, das ist ein Buch mit Anfang und Ende.” Oder so! Den Anfang habe ich ja, nun geht es irgendwie weiter.
X
Liv stieg aufs Fahrrad und sah aus dem Augenwinkel einen Golfball in der Hecke. Flüchtig fuhren einige Erinnerungen an “früher” durch ihren Kopf. Ihr Vater und sie auf der Driving Range. Der Weg nach Hause, am Aldi vorbei, wo sie sich an einer Dose Erdnüsse böse die Hand aufschnitt. Fünf Stiche. Nie konnte sie sich an Schmerzen oder Sorge oder Leid erinnern, jedenfalls nicht, wenn es um Körperliches ging. Die ersten Lebensbeschwerden kamen, abgesehen vom Heimweh auf Reisen, erst mit 17 und entfalteten sich in einer Melancholie oder Weltfremdheit, Abneigung gegenüber den meisten Menschen an sich, und der Zuneigung zu Gedichten, Songtexten, Dostojevski oder Paul Coehlo. Sie war froh, dass sie diese Zeit in voller Tiefe erfahren hatte, denn auf diese Ecken des Herzens hatte sie heute, ungefähr nach den ersten drei Jahrzehnten ihres Lebens, keine Lust mehr. Von Traurigem, Tragischem, Melancholischem hielt sie sich fern, abgesehen von den seltenen Momenten, wo man Radiohead oder Nirvana im Radio nicht wegschalten konnte. Liz fuhr das Kopfsteinpflaster hoch, hasste diese wenigen Sekunden des Weges, und freute sich über die nächste Straßenbiegung. Neuerdings war sie mit Helm unterwegs, was sich sicher anfühlte, aber auch unheimlich dämlich. Immerhin würde sie so nun weniger Blickkontakt zu all den attraktiven Männern suchen, die vormittags unterwegs waren, was eventuell gefährlicher für ihre Verkehrssicherheit war, als abbiegende LKWs oder missachtetes Rechts-vor-Links. Sie hoffte einfach nur, dasd “er” sie nicht sah, dass niemand sie sah, in ihrem Fahrrad-Outfit mit Allzweckjacke. Auf dem letzten Drittel der Strecke stieß sie auf eine Grundschulklasse beim polizeilichen Fahrradverkehrsunterricht. Ich schloss mich der Gruppe an, reihte mich hinten ein und tue für einen Moment so, als wäre ich einer von ihnen, ungefähr neun Jahre alt. Bis zur nächsten Straßenecke bleibe ich Abschluss der langen neon-farbeben Kinder-Kette. Bis der Polizist plötzlich laut polternd schreiend fragt, welche Verkehrsregel hier nun gelte und ich mich etwas eingeschüchtert, und plötzlich froh, nicht mehr neun zu sein, von der Gruppe löse. An ihr vorbei fahre ich zu meinem Studio, in dem ich versuchen werde, das Leben etwas zu sortieren. Und fahre beim Schulterblick tatsächlich gegen einen Laternenpfahl. Die Kinder waren nicht mehr in Sicht, das hätte mir den Rest gegeben, hätte der Polizist und die Schulklasse in Neon mich gesehen. Krankenwagen, Krankenhaus um die Ecke und zack, so schnell hat man eine Schraube im Bein. Drei Wochen Bettruhe, einige Besuche von Freunden und Familie. Endlich viel Zeit zum Lesen und die Einsicht, dass Ärzte auch nicht mehr das sind, was sie mal waren, jedenfalls nicht die Anfang 30.
XI
Vorläufiges Ende.
Es war Freitag. Die Arbeitswoche war für ihn um und nach einem Feierabendbier am Vorabend mit einigen Kollegen war er noch immer genervt und überfordert von dem ganzen Gerede, den ganzen Gesichtern, Problemen und dem Geschwätz der Leute. Nebensächlichkeiten, alles uninteressante Nebenschauplätze für ihn, und er war irritiert und froh, wieder allein zu sein. Es schwirrte in seinem Kopf. Freitag also. Seitdem Ariane weg war, war es anders, das Wochenende. Das war jedesmal das einzige, das ihn nach Trennungen wirklich störte. Er beschloss nach langer Zeit wieder einmal in die Kunsthalle zu gehen, einfach ohne Vorbereitung oder Plan von dem, was gezeigt wurde. Er erinnerte eine letzte Ausstellung zum Thema Trauer – oder Abschied- damit konnte er nicht viel anfangen. Eine Bilderserie über den Trauerzug von Kennedy hatte ihn jedoch zufällig tief berührt. Acht Fotografien, gut gedruckt und gehangen, zeigten den Blick aus dem langsam durch das große Land fahrenden Zug. Die Blicke und die letzte Ehre, die hunderte, tausende Menschen diesem Mann erwiesen. Analoge Bilder mit schöner Farbgebung, manchmal leicht verschwommen, weil aus der langsam schleichenden Bewegung der Zugmaschine geschossen. Traurige Gesichter eingetaucht in ruhige Stille. Aber aus dem Hintergrund, aus einem anderen Galerieraum, tönte ein leiser Trauermarsch, eine Videoperformance eines anderen Künstlers. Die beiden Arbeiten griffen auf fast mystische Weise zusammen. Der Trauerzug begleitet von einer ollen Blaskapelle, es war perfekt und er würde es nie vergessen, auch wenn er selber mit Trauer und Abschied nicht viel anfangen konnte, war er auf rätselhafte Weise berührt.
Nun stand er vor dem vor kurzem renovierten Museum und trat ein. Er kaufte sein Ticket und ging die Halle entlang, die Treppen hinunter, schaute sich im Gewölbe um und beschloss nach einigen Blicken auf die Werke, sich doch lieber in den Lesesaal zurückzuziehen. Einige Minuten später öffnete er die schwere Glastür und trat hinein in die kühle Stille. Wie konserviert saß er schließlich am dunkelgrünen Tisch, griff nach einem alten Buch, das Radierungen, Selbstportraits und Szenen von Dürer bis Brügel zeigte. Im selben Moment griff Livs Hand nach der Tür zur Kunsthalle. Sie ging oft und gerne an diesen Ort, hatte nichts anderes vor an dem Tag und floh vor der Hitze, die sich draußen seit Mittag ausgebreitet hatte, dabei war es nicht mal richtig Sommer. Ihren Dauerausweis zeigend ging sie zielstrebig durch die Halle, hinauf in den ersten Stock. Heute würde sie nur zwei Gemälde anschauen, sie mochte das Privileg, nur wegen einem Maler in die Kunsthalle zu gehen. Nicht den Druck zu haben, viel mehr anzuschauen als ein oder zwei Bilder. Sie trat vor die Madonna von Munch, das Bild, das ihr den Zugang zur Kunst verschafft hatte. Vielleicht weil es selbst der Zugang zu allem war und gleichzeitig das ewige Verlieren im großen Nichts. Wie die Frau ins Weite fiel, sich selbst verlor und doch Ursprung von Leben war und gleichzeitig schon den Tod vorwegnahm. Jemand hinter ihr nieste. Das Geräusch hallte noch einige Sekunden durch die Räume. Als würden die Wände vibrieren und die Luft zittern. Liv hörte das leichte Summen der Geräte, wie in einem OP Saal. Akribisch wurde aufgepasst, dass die Kunst am Leben gehalten wurde. Die Temperatur stimmte, die Luftfeuchtigkeit auch, alles war hier in Ordnung. Für alles war gesorgt. Ein Mann schritt durch den Raum, wie ein Bestatter mit bedächtigem Blick und dunkler Jacke. Liv ging zu ihrem zweiten Ziel des Tages. Sie wusste, dass ihr Bedürfnis hier zu sein, ihre Aufmerksamkeitsspanne oder Geduld, nichts zu tun außer Bilder anzuschauen, nicht mehr lang reichen würde. Darum wählte sie die Wege strategisch klug und die Bilder nach absolutem Interesse. Sie schaute nicht nach rechts und links, weil sie gelernt hatte, dass es nicht Not tat. Der junge Liebermann schaute sie an, als sie in den Raum trat und nach links schaute. Sie lies sich nicht hinreißen, die anderen Gemälde, weitaus anziehender und herausfordernder, anzuschauen. Max Liebermann, gut angezogen, jung und stolz, schaute sich selbst an, oder sie, oder nichts- man wusste es nicht. Aber es stand fest, dass er Contenance besaß und vielleicht war es das, was sie anzog. Als wäre durch den Anzug, die Haltung – all jenes was bei der Madonna so sichtbar war, Liebe, Leben und Nichts- in feinem Leinen zusammengepackt und geschnürt. Diese Haltung, bei vielen Bildern aus dieser Zeit, Portraits von Künstlern und Schriftstellern, faszinierten sie. Wie sich großes kreatives Können und Weisheit hinter diesen gut angezogenen Männern im Anzug verbargen. Leichte Schatten unter den Augen, wie gern auch bei Thomas Mann gesehen, und der traurige Ernst um den Mund herum, verrieten sie. Es gab keine Leichtigkeit. Aber dafür war dann eben der beige Leinenstoff des Anzugs da. Um etwas Helligkeit zu verbreiten, wenn schon hinter jeder fröhlich scheinenden Szene, zwischen jeder humoresken Zeile Geschriebenes irgendwie auch die Vergänglichkeit und die Nichtigkeit hindurchschimmerte.
Liv verließ das Museum und ging ihren Weg, Ferdinand saß noch etwas im kühlen Kupferstichkabinett und wer weiß, wohin er danach ging. Irgendwann einige Jahre später würde er Petra treffen und für immer genug Ruhe haben.
Ende.
FORTSETZUNG
NEU Kapitel 06.12.2020
Es war Donnerstag morgen. Sie lief an den Hausbooten vorbei und schmunzelte, als sie auf einem Boot einen Workshop wahrnahm. Um die fünf Männer waren auf dem Boot verteilt, unten auf der Terrasse, oben am Eingang und im Wohnzimmer hinter den großen Glasfenstern. Sie grübelten vor großen weissen Zetteln, machten Brainstorming und sahen aus wie ein Teil einer Schulklasse auf einem Kreativtag oder einer Selbstfindungs-Coaching. Es sah liebenswürdig und auch etwas lächerlich aus. Diese reifen Männer in ihren hellblauen und weissen Hemden- gekämmten Haaren und teilweise bestimmt mit teurem Aftershave besprühten Hälsen. Unreif war auch, wie sehr sie immer noch an den Erinnerungen hing, an eine Zeit, die nun schon mehr als eine Jahreszeit her war und nicht mal eine Jahreszeit gedauert hatte. Ob man daraus eine Faustregel bauen kann, dachte sie sich? Sie hatte immer gesagt, es läge unter’m Herbstlaub begraben. Was, wusste sie nicht exakt, aber grob gesagt, das Ziel, die Auflösung dieses furchtbaren Heartbreaks, der Stille. Die Mauer des Schweigens würde irgendwann brechen müssen, das wusste sie. Und sie lag falsch, was sie jedoch erst Monate später wirklich sicher wusste. Ein Haufen Laub riesengroß, hinter dem nächsten. Eingefangen in ein grobes Netz, zum Abtransport bereit. Ein Symbol für all die Versuche, Ordnung zu schaffen, Sinn zu finden, einen Grund für das Schweigen des Mannes, in den sie sich augenscheinlich doch verliebt hatte, obwohl sie es verneint hatte. Sie joggte und mit jedem Laubsack wurde es schwerer und sie begann zu schluchzen, blickte auf den Kanal, war tief unglücklich aber wusste, dass das nun eben so war und auch wieder eine andere Zeit kommen würde. Trauer gehörte zum Leben dazu, vor allem zum Abnabelungsprozess, dem war sie sich bewusst und so war es richtig, wenn auch wie gesagt, schwer.
Als Konsequenz ihrer unaufhaltsamen Sorgen und Milliarden zweifelnden und zermürbenden Gedanken, teilweise in Romanlänge oder dann wieder mindestens Gedankenfetzen ging sie zur Apotheke um sich ihre Lieblingsberuhigungstabletten zu kaufen, die einzigen die nicht verschreibungspflichtig waren, rein pflanzlich, und trotzdem wirkten. Bis auf die Tatsache, dass sie ihre ungeliebteste Farbe, lila, hatten- liebte sie diese Tabletten. Sie konnte sich selber eigentlich meist nicht mehr ernst nehmen, z.B. in Momenten wie diesen, wenn sie wirklich durch ein gesamtes Kaufhaus, circa 7-10 Minuten zu Fuß lief, nur um bei dem ihrem liebsten Apotheker der Stadt einzukaufen. Sie war jedesmal etwas verliebt und voller unangemessener Gedanken, wenn sie durch die Glasschiebetüren den Laden verließ und sie mochte, dass darauf Verlass war, wie auf kaum etwas.
NEU Kapitel 10.01.2020
Sie saß in Gedanken im Zug nach Berlin. Ich muss mich doch erinnern. Das Vorbeifahren am Flughafen war ein einschneidendes Erlebnis gewesen. Den fast stillgelegt scheinenden Platz zu sehen, kaum Maschinen und schon gar keine in der Luft. Ein Rückblick auf all die Flüge, meist kurze Strecken durch Europa, in einer Zeit, bevor man Hoffnung hatte, dass auch Bahnreisen künftig bezahlbar sein könnten und es wieder Nachtzüge nach Paris oder Rom geben könnte. Immer wieder die Zelte abreißen zu können, nie mehr zu besitzen als was in den kleinen VW passt. All das schien jetzt vorbei zu sein. In den letzten Wochen war es immer klarer geworden, dass auch die kurzen Affären, der unverbindliche Sex aufhören müsse, jedenfalls in der Art und Weise wie es bislang immer prinzipiell gut funktioniert hatte. Aber sie wollte sie nicht vergessen, diese kurzen bedeutungslosen Geschichten, wo hatte sie all diese Kerle kennengelernt, sie versuchte sich an die drei besten Geschichten zu erinnern, vielleicht auch als Grund, weil sie jemanden erklären wollte, warum sie genügend Geschichten erlebt hatte. Jemand, den sie mochte und der nach Unverbindlichem suchte – Anfang 30. Sie beneidete diese Freiheit, als Mensch, vor allem als Mann so ohne Zeitdruck oder komisches Gefühl als Single auf der Suche nach Unverbindlichem durch’s Leben zu gehen. Ob das eine Illusion war, wusste sie nicht. Sie dachte an den Eishockey-Spieler aus Detroit, der aussah und tätowiert war wie ein schwarzer Rapper dessen Namen sie nicht erinnerte. Im Supermarkt war sie fast mit ihm zusammengeprallt, während eines stressigen Arbeitstags in der Filmproduktion. Sein Gesicht war ihrem so nah, dass sie die Schönheit faszinierte, die reinen Formen und stark ausgeprägten Gesichtszüge, die braune Haut und leuchtende Augen, schwungvoll geformte Lippen, die sie an einen schönen Italiener erinnerte, den sie einige Jahre vorher in Berlin kennengelernt hatte. Einige Minuten später liefen sie sich wieder vor den Kühlschränken über den Weg und lächelten sich an. An der Kasse stand sie tatsächlich zufällig hinter ihm an, wodurch ein Kontakt, einige kurze Worte die eher lächerlich wirkten, unvermeidbar waren. Vor der Tür wartete er mit seinem Handy in der Hand und sie sprach ihn auf Englisch an, was er machte, wo er her kam. Alles war leichter auf Englisch. Einige Tage später trafen sie sich auf ein Bier in ihrer Lieblingsbar vor der Brücke, er in grauem Jogger und völler absurder Geschichten. Der Abend endete bei ihr im Bett mit dem Blick auf tätowierte Muskeln im Halbdunkeln. Der halb schwedisch, halb US-amerikanische Icehockeyspieler war für eine Knieoperation in Hamburg gewesen. Eine weitere Erinnerung, bei der sie lächelte, war die Begegnung mit Antoine in der Pariser U-Bahn. Er trug große Kopfhörer und wie sie später erfuhr hörte er The Doors. Er schaute sie durch die anderen Passagiere an, dunkle Locken fielen ihm in die Stirn. Er sah aus wie ein Grieche oder Römer, mit einem zarten, kantigen Gesicht und grünen Augen. In seinem Duffle-Coat ging er zeitgleich die U-Bahnstation hinaus, Anvers. Beide starrten durch die Gegend, sie suchte eine Hausnummer und fragte ihn um Hilfe, der Ebenfalls schaute, in welche Richtung er müsste. Er lud sie ein, mit ihm in eine Bar zu kommen, wo er Freunde treffen wollte, was für eine amüsante Erinnerung, gerade weil sie eigentlich fremde Gruppen scheute. Die Wege trennten sich im Laufe des Abends, und als sie sich bei einer WG-Party wiedersahen, einige Stunden später, er war auf SMS dort hingelangt, klärte er das Missverständnis auf, der Ring an seinem Finger sei kein Ehering, seine Freunde in der Bar hätten nur Spaß gemacht. Auch wenn die Nacht an sich keine besondere war, erinnerte sich Liz gerne, als sie die Felder außerhalb des ICE’s an sich vorbeiziehen sah. Ein Dorf, noch ein Dorf und eine Autobahn, die parallel zu den Gleisen verlief, um dann in eine neue Richtung abzugehen. Nummer drei der besten Erinnerungen war vielleicht der junge attraktive Typ, den sie über eine App kennengelernt hatte, er war schlicht und einfach in einer Mittagspause zu ihr gefahren und sie hatten nach einigen kurzen Worten miteinander geschlafen. Er sah aus wie ein junges Model, kräftige Lippen, Sommersprossen und kurz rasierte Haare, unheimlich durchtrainiert. Julien hiess er, wie ihr erster großer Heartbreak aus Frankreich. Weil Nummer drei eine so kurze Erinnerung war, kam sie noch auf den Engländer, ein Freund eines Kommilitonen, der bei einem Drink abends sehr deutlich seine Intention offengelegt hatte. Einige Tage später stand sie in seiner Wohnung, Mittags um 12 und nach einer Begrüßung schliefen sie miteinander. Sie hatte nie verstanden, warum es nicht immer so einfach sein kann, warum alle Welt so kompliziert ist und warum diese Momente oft nicht wiederholbar waren, sondern für den Gegenpart nach Wiederholungen immer kompliziert oder langweilig zu werden schienen. Für sie hatten diese Treffen etwas therapeutisches, meditatives, inspirierendes, besser als jeder Besuch im Fitness Center, besser als jede Nackenmassage. Eine Kontrolleurin störte ihr Schwelgen in der Vergangenheit und kontrollierte das Ticket und ihre Bahncard. Sie holte ihr Handy heraus und kramte in den Emails, in den Apps, bis die Frau freundlich verschwandt. Nächster Halt, Wittenberge. Alles wiederholte sich ewig, bis es irgendwann einmal anders sein würde. Sie sah Dompfaffe in einer Hecke sitzen, die Äste abknabbern, im Hintergrund ein Kirchturm und als die Fahrt sich beschleunigte, wieder dieses bizarre Fabrikgebäude mit dem Uhrenturm. Was war das bloß für ein Gebäude und wann würde sie endlich dort hingelangen? Sie dürfte es nicht vergessen, müsse sich wieder eine Notiz machen, da sie die letzte Notiz schon lange wieder vergessen hatte und wohl unbestimme Zeit nicht genau diese Seite des Notizbuchs öffnen würde! Quel misère ! Gemein war eigentlich, dass der beste Sex meist hinter den guten Storys zurückblieb. Da war der Mitbewohner ihrer ehemaligen Freundin in London, da war der Medizinstudent, ihre einzige stabile Affaire seit Jahren, da war der unfassbar sportliche Typ, der um die Ecke von ihr wohnte, allerdings leider wieder zu kompliziert, sportsüchtig oder desinteressiert schien, um eine Regelmäßigkeit der Treffen etablieren zu wollen. Es brach ihr das Herz, denn er war ebenso schön wie der Italiener oder der Eishockeyspieler, was für eine Verschwendung! Und dann waren da bedeutungslose Typen, deren Namen sie nicht erinnerte und die Nächte ebenfalls nicht- der Londoner Tischler, ein hübscher Franzose in London, unfassbar schön aber unfassbar schlecht im Bett. Dann der Mann der hässlicher war als Jürgen Vogel und leider eben nicht Jürgen Vogel, denn das hätte es legitimiert. Einige würden folgen, würde sie genügend Geduld haben, sich zu erinnern, aber es war ihr zu langweilig. Tragisch war eigentlich nur eine Geschichte. Ein Mann mit dem sie nicht geschlafen hatte, weil sie mit 17 noch nicht so weit war. Er war ein Australier und wohnte auf der Range auf der McLoads Töchter gedreht wurde. Er selbst hatte Pferde, und sie erinnerte sich an ihn als der australische Cowboy. Sie waren nach einigen Getränken auf dem Weihnachtsmarkt in ein Stundenhotel auf der Reeperbahn gegangen, eine Bibel auf dem Nachtisch. Details ploppten in ihre Erinnerung und sie entschied sich, eien Podcast anzumachen und den Fokus zu verändern. Sie griff nach ihrem Schal und setzte sich gerade hin. Auch müsste sie sich langsam auf das Gespräch einstellen, das sie in Berlin erwartete. Für einen Job würde sie dort ihren Hamburger Kollegen treffen und in einem Museum über Exponate und deren digitalen Display diskutieren. Das könnte lustig werden und sie realisierte, dass die letzten 20 Minuten Bahnfahrt wie immer zu schnell umgingen. Die Bahn rüttelte und die Felder wurden karger, die Gebäude größer und der Himmel ein Stück grauer. Es war Februar.
NEU Kapitel 06.02.2020
Ein großer weisser Königspudel. Er lief einfach so am Haus vorbei, kam einige Minuten später wieder und lief wie selbstverständlich die Treppe hinunter zu der dunklen großen schweren Tür. ER schnüffelte und setzte sich vor darauf dien kühlen Betonboden als hätte er nie woanders hingehört. Ferdinand faltete seine Mütze in der Hand und stand schweigend am Treppenabsatz. Und plötzlich war es ihm so, als hätte er das Haus schon einmal auf einem Foto gesehen. Warum war es ihm nicht früher eingefallen? er
wohnte doch bereits Jahre in dieser Wohnung mit dem kleinen Garten und dem dunklen Treppenabsatz, der schweren dunkeln Tür.
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(Sie fuhr zu ihrem lang ersehnten Rendezvous nach Köln, ohne zu wissen was passieren würde. Aber, es fühlte sich definitiv so an, als wäre es völlig klar und ganz normal, dass sie an einem Samstag Mittag zu ihm nach Köln fahren würde.) Leider war das genau das Problem, jedenfalls für ihn. Nur 24 Stunden war alles misslungen, die Träume blieben im Schneeregen in Köln und Liz fuhr völlig desillusioniert die Strecke wieder nach Hamburg. Mit ihren Schwestern verbrachte sie den Abend, aß Pizza, rauchte einen Joint, schaute Trash-TV, das goldene Wahrheiten beinhaltete und überlegte, ein Buch über ihre Familie zu schreiben, wie Thomas Man, der hatte es ja auch kaum anders getan! Sie sprach mit ihrer Schwester Erika, dem absolut größten noch unentdeckten Talent von Entertainment und Polit-shows, über Individualismus, die Sinnlosigkeit des Alltäglichen, Simone de Beauvoir und der Philosophie als Praxis, über die alle Schwestern mehr oder minder verbindende Antriebslosigkeit und endlose Sinnsuche, die sich fast durchgängig wie ein steifer Raureif über sie legen zu schien. Sie wollte die Welt verändern und wirklich etwas Entscheidendes tun. was sollte das sein- eine von vielen normale, im Durchschnitt, nur ein Rad im großen System sein. Und dann irgendwann abtreten, ohne dass sich die Welt nach ihr entscheidend geändert hat? Darüber dachte sie wieder einmal hastig nach… und überlegte, ob sie sich einen TwitterAccount erstellen sollte! Ein Einstieg in die digitale Welt, diese scheinsoziale Parallelwelt, war lange überfällig. Den Gedanken verwarf sie, machte sich einen Kaffee und rauchte die 4. Zigarette obwohl es erst 11 Uhr war.